Karl Hübner hat jetzt darüber berichtet:
150 Jahre synthetisches Vanillin
Der Geschmack des
schwarzen Goldes
Karl Hübner
Vanille ist eine der bedeutendsten Geschmacks- und Duftnoten in der Welt der
Lebensmittel und Parfüms. Die wichtigste Aroma-Komponente der Vanille-Scho-
te ist dabei Vanillin 1874 wurde zum ersten Mal ein chemischer
Syntheseweg für diese Substanz patentiert. Bis heute hat die Herstellung von
Vanillin große industrielle Bedeutung. Die Syntheserouten haben sich dabei im
Laufe von 150 Jahren häufig verändert.
Das Vanille-Aroma begegnet uns in zahlreichen Produk-
ten. Es findet sich in Eiscreme, Backwaren, Schokolade,
Rooibos-Tee und auch in Parfüms und Kosmetikarti-
keln . Sogar in vielen Medikamenten spielt es
eine Rolle und dient dort dazu, den bitteren Geschmack
anderer Inhaltsstoffe zu überdecken. Industrieschätzungen
zufolge soll es weltweit über 18.000 Produkte geben, die
das Vanille-Aroma enthalten.
Die süßliche Note stammt ursprünglich aus den Kapsel-
früchten der Vanille, einer Gattung innerhalb der Orchideen. Die sowohl in Sachen Menge als auch
Aromabeitrag wichtigste Komponente dieser Schoten ist
das Vanillin, eigentlich 4-Hydroxy-3-methoxybenzaldehyd.
Heute werden weit über 95 Prozent des industriell verarbeiteten
Vanillins nicht aus den Schoten extrahiert, son-
dern synthetisch gewonnen.
.Viele Produkte enthalten das Vanille-Aroma, häufig in Gestalt des wichtigsten Aromabestandteils Vanillin. So ist
Vanillin-Zucker eine günstigere Alternative zum Vanille-Zucker. Auch bei der beliebten Speiseeissorte Vanille ersetzen
Hersteller den natürlichen Vanille-Extrakt mitunter durch synthetisches Vanillin. Beim legendären Chanel No
5 gehört Vanillin
zu den 31 Komponenten der Urrezeptur und ist bis heute Bestandteil der Basisnote. (©: Dr. Oetker, arz, über Wikimedia Commons,
Steven Depolo, über Wikimedia Commons)
2 Chem. Unserer Zeit Online-Ausgabe unter:
wileyonlinelibrary.com
© 2024 Wiley-VCH GmbH
Der Erste, der einen solchen Syn-
theseweg fand, war Wilhelm Haar-
mann aus dem kleinen
Städtchen Holzminden an der Weser.
Und nach Björn Bernhard Kuhses
Buch über den Chemiker Haarmann,
Der Herr der Düfte, könnte dessen
Begeisterung für die liebliche Ge-
schmacksrichtung schon in der frü-
hen Kindheit geweckt worden sein.
„Ich höre die Engelein pfeifen“, lässt
Kuhse den noch kleinen Wilhelm
jedenfalls sagen, als dieser bei seiner
Großmutter zum ersten Mal einen
Vanille-Pudding probieren darf [2].
Vorher hatte er zugesehen, wie die
Oma die geschmacksgebende Zutat
aus einer „seidenglänzenden, dunkel-
braunen Frucht“ gewann, die sie „vor-
sichtig aus einem Glasgefäß nahm“. Das sei „eine Vanille-
Schote aus Mexiko“, so die Großmutter bedeutungsvoll.
Ob der junge Wilhelm wirklich die Engelein pfeifen
hörte, ist fraglich. Kuhse nennt sein Buch ein „fiktionales
Werk“. Diesen Wissenschaftsroman erzählt er allerdings mit
realen Figuren und hat ihn in einen historisch verbürgten
Rahmen eingebettet – und den hat er gut und intensiv re-
cherchiert. Schon einige Jahre zuvor veröffentlichte Kuhse
zum selben Thema das Sachbuch Wilhelm Haarmann auf
den Spuren der Vanille [3] sowie seine Dissertation Vanil-
lin – Historie und Schulrelevanz [4]. Letztere ist insofern
bemerkenswert, als Kuhse sie mit bereits über 70 Jahren
vorlegte. Der ehemalige Chemielehrer und Studiendirektor
hatte erst nach seinem Ruhestand im Jahr 2002 damit be-
gonnen, sich der Geschichte dieser ersten Synthese eines
Aromastoffs zu widmen. „Ich wollte mich mit etwas beschäf-
tigen, das auch einen regionalen Bezug hat“, sagt der inzwi-
schen 86-jährige Kuhse. Und so war er auf den Vanillin-Pionier
Wilhelm Haarmann aus Holzminden gestoßen, das
zwar in einem anderen Bundesland, aber trotzdem nicht
weit weg von Kuhses Heimat Halle in Westfalen liegt.
Ob Haarmanns Vanille-Faszination durch die Großmut-
ter geweckt wurde, ist also ungewiss. Klar ist dagegen, dass
man diesen Geschmack zu jener Zeit, Haarmann wurde
1847 geboren, nur durch Verarbeitung von natürlichen
Vanille-Schoten erzeugen konnte. Die waren eine Rarität
und entsprechend teuer. Das galt dann auch für das daraus
extrahierte Vanillin, das rund zwei Prozent des Schotengewichts
ausmacht. „Vanillin war wertvoller als Gold“,
schreibt Kuhse in seiner Dissertation. 1875 habe ein Gramm
bis zu zehn Reichsmark gekostet, ein Gramm Feingold
dagegen weniger als drei Mark. Bis heute gilt Vanille als
Königin der Gewürze oder auch als Schwarzes Gold.
Die Substanz im Labor herzustellen, war also eine loh-
nenswerte Aufgabe. In chemischer Hinsicht aber auch eine
Herausforderung. Zwar war die Summenformel mit C8H8O3
schon bekannt, aber wie das Molekül genau aussah, lag
Wilhelm Haarmann (1847–1931),
etwa 1921
noch im Dunkeln. In den frühen
1870er-Jahren begann Wilhelm Haar-
mann, sich der Thematik zu wid-
men, – gemeinsam mit seinem Kom-
militonen und Freund Ferdinand Tie-
mann. Beide waren 1869 von Clausthal
beziehungsweise Braunschweig nach
Berlin gewechselt, um ihr Chemiestu-
dium bei August Wilhelm Hofmann
fortzusetzen, einem der führenden
deutschen Chemiker jener Zeit (über
den Kuhse inzwischen auch ein Buch
geschrieben hat). Dass sich Haarmann
und Tiemann dort überhaupt mit Va-
nillin beschäftigten, hatte freilich eine
Vorgeschichte jenseits des Vanille-
Puddings aus Haarmanns Kindheit.
Die beginnt damit, dass ein Forst-
rat namens Theodor Hartig im soge-
nannten Kambialsaft von Lärchen und später auch Fichten
eine kristallisierende Substanz findet, die er zunächst Lari-
cin und dann Abietin nennt. Weil Hartig auch am Collegium
Carolinum in Braunschweig lehrt, setzt er dort Mitte der
1860er-Jahre den Chemie- und Pharmazie-Studenten Wil-
helm Kubel darauf an, die Substanz genauer zu untersu-
chen. Dieser wird sie, in Absprache mit Hartig, schon bald
in Coniferin umbenennen, nachdem sich zeigt, dass sie in
allen Nadelhölzern (Koniferen, wörtlich: Zapfenträger) vor-
kommt und der Name Abietin ohnehin schon anderweitig
vergeben ist.„Höchst angenehmer Vanillegeruch“ aus
dem Wald.
Es ist aber mühsam, an das Coniferin zu gelangen. Die
Bäume müssen während der Holzbildungsphase gefällt und
dann entrindet werden. Kubel beschreibt, wie das dann freiliegende
Kambium mit Glasscherben vom darunterliegen-
den Holz abgeschabt und danach ausgepresst wird. Die
erhaltene, trübe Flüssigkeit wird gekocht, filtriert und da-
nach eingedampft, bis sich Coniferin „in zarten spiessför-
migen Krystallen abscheidet“, wie Kubel 1866 in einem
Aufsatz über die Substanz ausführt [5]. Der angehende Pha rmazeut
versucht, die Substanz genauer zu charakterisieren
und erkennt aufgrund einer Zucker-Abspaltung ihren glucosidischen
Charakter. Worum es sich beim Rest des Moleküls
handelt, bleibt ihm allerdings verborgen. Doch er erwähnt
noch den „höchst angenehmen Vanillegeruch“, der sich
entwickelt, wenn man eine wässrige Coniferin-Lösung mit
verdünnten Säuren kocht. Über die Elementaranalyse findet
Kubel, dass Coniferin (Formel s. Abbildung 4) Kohlenstoff,
Wasserstoff und Sauerstoff enthält. Allerdings schätzt er die
Zusammensetzung mit C24H32O12 noch falsch ab und gibt
die Arbeiten schließlich ganz auf. So kommen Wilhelm
Haarmann und Ferdinand Tiemann ins Spiel, die der Sache
in Berlin nachgehen, nachdem sie von ihrer Teilnahme am
deutsch-französischen Krieg zurückgekehrt sind.